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George Hinge

 

Völkerwanderungen in Herodots Geschichtswerk
Indogermanische Männerbünde und Landnahmesagen

von George Hinge

 

 

1 Das Wort Völkerwanderung kam in der Nachkriegszeit verständlicherweise aus der Mode, nachdem es dem rassistischen Gebrauch skrupelloser Forscher und Laien zum Opfer gefallen war. An die Stelle der kriegerischen Aggression der Streitaxt schwingenden patriarchalischen Arier, die pazifistische und matriarchalische, meist dunkelhäutige Ureinwohner unterzwangen, setzte die neue Archäologie Begriffe wie multiregionale Entwicklung und Diffusion ein. Es habe dementsprechend womöglich kein urindogermanisches Volk, sondern nur intensiven Sprachausgleich gegeben. Dem verpönten Modell der Völkerwanderung haben die altgriechischen Historiker immerhin vorgegriffen. Ich werde in diesem Aufsatz zwei Beispiele für Völkerwanderungen in Herodots Geschichtswerk, die Skythenwanderung im vierten Buch und die Hellenenwanderung im ersten Buch, näher untersuchen. Die Frage ist, welchen historischen Wert man ihnen beimessen darf, ob sie wahrhafte Testimonien der Iranisierung des nördlichen Schwarzmeerraumes bzw. der Hellenisierung der südlichen Balkanhalbinsel sind, oder ob wir es vielmehr mit reiner Konstruktion zu tun haben. Ich werde Herodots historische Darstellung in ihren mythischen Kontext einsetzen. Es wird sich herausstellen, dass der Mythos doch einen Beitrag zur indogermanischen Urgeschichte liefern kann.

Herodot präsentiert zwei mythische Erklärungen für die Herkunft der Skythen: eine skythische Fassung, die das Volk von einem Urmenschen namens Targitaos, dem Sohn des Zeus und des Flusses Borysthenes, herleitet (4.5-7), und eine lokale griechische Fassung, der zufolge die benachbarten Barbarenstämme einer Beziehung zwischen Herakles und einer chthonischen Göttin entsprangen (4.8-10). Er entscheidet sich jedoch für eine dritte Erklärung, und zwar die, dass die Skythen nicht aus dem Boden Skythiens stammen, sondern dorthin aus Zentralasien eingewandert seien (4.11-13). Die Rede ist explizit von einer Völkerwanderung, die von den zentralasiatischen Arimaspen ausgelöst worden sein soll; sie hatten angeblich die Issedonen verdrängt, die folglich auf die Skythen pressten, die wiederum die Ureinwohner Skythiens, die Kimmerier, vertrieben haben sollen. Herodot beruft sich in dieser Rekonstruktion des Sachverlaufes auf den epischen Dichter Aristeas von Prokonnes, der angeblich die Issedonen besuchte.

Es steht fest, dass die Skythen Iranier waren. Nah verwandte Nomadenstämme bewohnten im Altertum die eurasischen Steppen vom Schwarzmeer bis zu China. Obwohl sie keine eigenen Sprachdenkmäler hinterließen, lässt sich ihre Herkunft aus den skythischen Namen der griechischsprachigen Urkunden schließen. Ihre Sprache gehörte diesem Zeugnis zufolge zum nordostiranischen Zweig und war somit mit dem heutigen Ossetisch eng verwandt.

Die Ethnizität der kimmerischen Urbevölkerung ist andererseits umstritten. Früher wurde sie für Thraker gehalten, aber es gibt so gut wie keine Evidenz für diese Behauptung. Georg Holzer denkt, dass die Sprache der Kimmerier sich aufgrund phonetisch abweichender Wörter in den baltoslavischen Sprachen rekonstruieren lässt. Das kimmerische Substrat („Temematisch“) weise Mediae für idg. Tenues und Tenues für idg. aspirierte Mediae auf. Den Kimmeriernamen führt er beispielsweise auf *k̂émro , *k̂mirdo „Bauer“ < idg. *ĝhēm-ro , *ĝhmerto „irdisch“ zurück, das ebenfalls in ursl. *smьrdъ „Bauer“ (russ. смерд) und *sębrъ „Teilbauer“ (russ. сябёр / шабёр) vorliegen soll. Die Kimmerier seien mit anderen Worten die sesshafte Bauerbevölkerung, die von den skythischen Nomaden verdrängt worden seien. Wenn *k̂émro zu gr. Κιμμέριος und ursl. *sębrъ entlehnt worden wäre, würde es jedoch voraussetzen, dass die idg. *k̂-Reihe im hypothetischen Dialekt noch im 8. Jh. v. Chr. k-ähnlich ausgesprochen wurde, obwohl sie im Baltischen und Slavischen als Sibilanten aufgenommen wurde. Auch wenn die gelegentlichen Unregelmäßigkeiten in der Phonetik einiger idg. Erbwörter im Baltischen und Slavischen tatsächlich dem Einfluss eines unbekannten Dialekts zugeschrieben werden, spricht nur wenig dafür, dass jener Dialekt auch im Schwarzmeerraum gesprochen wurde. Holzer will die „kimmerische“ Lautverschiebung auch im Flussnamen Τάναϊς = Don belegen. Warum hätten die Griechen aber den Namen von den schon lange ausgewanderten Kimmeriern entlehnen sollen? Die griechische Wiedergabe skythischer Namen weist übrigens öfter Tenues für Mediae auf, vgl. Τράσπιες = *Drwaspya (Hdt. 4.6.1), und *dana war ohnehin ein gangbares Wort im Nordostiranischen, vgl. ossetisch don „Fluss“.

Die Kimmerier, die Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. im vorderen Orient auftauchten, unterschieden sich außerdem in materieller Hinsicht nicht von den skythischen Nomaden. Die meisten Forscher neigen deswegen heute dazu, sie als Iranier einzustufen. Als die Griechen um 700 v. Chr. ins Schwarzmeer hineindrangen, traten sie offenbar sofort mit einem iranischsprachigen Volk in Verbindung, von dem sie den Namen des Meeres, Πόντος Ἄξεινος (euphemistisch Εὔξεινος), entlehnten, zu iran. *axšaina „schwarz“. Die Farbbezeichnung macht nur auf dem südlichen Ufer Sinn. Diese Iranier waren mutmaßlich die Kimmerier, die sich laut Herodot zuerst in der Nähe von Sinope niederließen (4.12.2). Sie haben den Griechen erzählt, dass ihre Urheimat jenseits des Meeres Achschaina, in der ewigen Finsternis, lag. Die Odyssee sagt von den Kimmeriern, dass sie am Okeanos, am Rand der Welt, wohnen, und dass die Sonne niemals zu ihnen kommt (11.14-19). Die griechischen Kolonisten, die an den Rand der Welt gelangten, glaubten, dass sie in diesem mythischen Land siedelten und haben den Kimmeriernamen an verschiedene Örtlichkeiten geheftet: den Kimmerischen Bosporos, die Kimmerischen Mauern und die Kimmerischen Gräber (Hdt. 4.12.1). Auch in Italien wollten die Griechen Kimmerier finden (Ephoros, FGrHist 70 F 134), was ein deutliches Indiz dafür ist, dass die genaue Platzierung vor Herodot noch ziemlich unklar war.

Herodot teilt die Skythen in vier geographisch und wirtschaftlich getrennte Gruppen ein: die Pflugskythen, die Ackerbauskythen, die Nomadenskythen und endlich die Königsskythen, die alle anderen Skythen als ihre Sklaven betrachten. Die Frage ist, ob diese Gruppen sich auch ethnisch unterschieden, in dem Sinne, dass nur die königlichen Skythen echte iranische Skythen waren, während die anderen Stämme die sesshafte bäuerliche (eventuell slawische) Bevölkerung der Bronzezeit fortsetzten. Die Kultur ist jedoch, trotz unterschiedlichen Bestattungssitten, ziemlich einheitlich. Herodot ist sonst äußerst zurückhaltend in seinem Gebrauch des Skythennamens. Andere Stämme der Region werden eben deswegen für Nichtskythen erklärt, weil sie eine andere Sprache sprechen (4.23.2, 4.24, 4.106, 4.109.1, 4.117). Auch wenn die Ackerbauern Nachkommen der Urbevölkerung sind, haben sie sich offenbar mit der skythischen Ethnizität und mit ihrer Sprache identifiziert. Wir haben es wahrscheinlich vielmehr mit einem einzelnen Volk zu tun, das zwei unterschiedliche Ökonomien umfasste.

 

2 In einem Exkurs über die griechischen Stämme (1.56-57) lehrt Herodot, dass die Dorer die echten Hellenen waren, deren Urheimat sich in der nördlichen Landschaft Thessalien befand, während die Athener eigentlich keine Hellenen, sondern autochthone Pelasger waren. Herodot denkt hier an die so genannte Dorerwanderung. Sie ist schon seit den ältesten Texten ein fester Teil der geschichtlichen Tradition. Pindar behauptet, dass die Spartaner von Pindos stammen (Pyth. 1.61-66), und der Spartaner Tyrtaios erzählt, dass die „Herakliden“ einst Erineos (am Parnass) verließen und in die Peloponnes einwanderten (fr. 2 W.). Die mündliche Tradition ist natürlich keine verlässliche Quelle zu einer Vorgeschichte, die schon mehr als 400 Jahre älter ist. Es gibt jedoch keinen Grund, weshalb die Spartaner eine Geschichte erfunden haben sollen, die eigentlich unvorteilhaft ist; die mythische Rekonstruktion, die aus den Königen Nachkommen des Herakles, des Erben der Peloponnes, macht, beschreibt eben einen Versuch, die Eroberung zu legitimieren. Die dialektale Prägung der Sprache der Linear B-Täfelchen ist ein deutliches Indiz dafür, dass die Dorer erst nach dem Zusammenbruch der mykenischen Kultur nach der Peloponnes und Kreta gelangten sind. John Chadwick wollte zwar gewisse orthographische Abweichungen der mykenischen Texte darauf zurückführen, dass Dorisch als ein Soziolekt der Unterschicht schon vorhanden gewesen sei. Obwohl Mykenisch normalerweise si für altes *ti zeigt, begegnet uns mitunter ein erhaltener Dental, z. B. O-ti-na-wo = Ortināwos (PY Cn 285) und Ta-ti-qo-we-u = Stātigwowēus (Tāti-?) (PY An 724). Chadwick schreibt solche Abweichungen dem dorischen Substrat zu. Ein gemeinsamer Archaismus beweist jedoch keine Verwandtschaft. Da Dorisch außerdem in diesem Namentypus überall s aufweist, kann das mykenische t ohnehin nicht dorischem Einfluss zugeschrieben werden.

Während die Dorer also aus dem Norden eingewandert sind, sind die Athener (und die Ionier, vgl. 7.94) laut Herodot Pelasger, die von den einwandernden Dorern hellenisiert wurden. Das „klassische“ Modell der Indogermanisierung Griechenlands operiert dagegen mit drei Einwanderungswellen: einer ionischen (um 1900 v. Chr.), einer achäischen (um 1600 v. Chr.) und einer dorischen Welle (um 1200 v. Chr.). Es entspricht der mythischen Herleitung der Griechen von Hellens drei Söhnen Xuthos, Achaios und Doros (Ps.-Hes., Cat., fr. 9 M.-W.; Apollod., Bibl. 1.7.3; Strb., Geogr. 8.7.1). Nichts spricht aber dafür, dass der mundartliche Unterschied zwischen Arkadisch-Kyprisch auf der einen und Ionisch-Attisch auf der anderen Seite auf zwei unterschiedlichen Einwanderungszeitpunkten zurückzuführen ist. Rischs Zweiteilung der griechischen Dialekte zufolge gehört Arkadisch-Kyprisch dementsprechend mit Ionisch-Attisch im selben südgriechischen Zweig zusammen. Da die beiden Blöcke zur mykenischen Zeit schließlich noch recht ähnlich waren, saßen die Nordgriechen wahrscheinlich nicht zu weit weg. Die Dorerwanderung ist also aus dem modernen Mittelgriechenland verlaufen, was mit den mittelgriechischen Lokalitäten, die Herodot als Zwischenstationen der Dorerwanderung erwähnt, gut übereinstimmt: Phthiotis, Histiaiotis, Pindos und Dryopis.

Herodot operiert offenbar lediglich mit éiner Einwanderung, und zwar derjenigen der Dorer. Die Athener und Ionier seien dagegen durch eine Hellenisierung der pelasgischen Urbevölkerung entstanden. Im ersten Fall haben wir Migration, im anderen dagegen Diffusion. Die Pelasger sind in der griechischen Tradition und rundum in Herodots Geschichtswerk der herkömmliche Name des autochthonen Urvolkes. Da die Athener Autochthonie behaupten, sind sie folglich auch Pelasger. An unserer Stelle geht Herodot aber einen Schritt weiter, wenn er aufgrund eines Vergleichs mit den Pelasgern, die zu seiner Zeit immer noch im nördlichen Ägäischen Meer lebten, die Schlussfolgerung zieht, dass die pelasgischen Vorfahren der Athener keine Griechen waren, sondern eine barbarische Sprache sprachen. Die Athener waren mit anderen Worten ursprünglich Barbaren.

Wir wissen nicht, welche Sprachen in Griechenland vor der Ankunft der Griechen gesprochen wurden. Eine ganze Reihe griechischer Wörter, die von der urindogermanischen Grundlage nicht hergeleitet werden können, wenn man den griechischen Lautregeln folgt, gehen wahrscheinlich, zum Teil, auf ein vorgriechisches Substrat zurück. Weil mehrere dieser Lehnwörter mit anderen Lautregeln schon als indogermanisch erklärt werden können, hat man vermutet, dass diese Sprache zu einem anderen Zweig des Indogermanischen gehörte. Man nennt diese hypothetische Sprache „pelasgisch“, obwohl es unklar ist, ob die historischen Pelasger, mit denen Herodot die mythischen Pelasger vergleicht, überhaupt mit diesen hypothetischen Indogermanen identisch waren. Es mögen außerdem mehrere sowohl indogermanische als auch nichtindogermanische Sprachen nebeneinander existiert haben. Es werden dem angenommenen „Pelasgisch“, das mit verschollenen Balkansprachen wie Thrakisch und Illyrisch eingestuft wird, sowohl eine der germanischen oder armenischen ähnlichen Lautverschiebung (z. B. τύμβος < *dhmbhos [= regelmäßig griechisch τάφος], πύργος < *bhrghos), und satəm-Konsonantismus (z. B. ἀσάμινθος < *h2k̂mntos [= ἄκμων]) zugeschrieben. Es besteht jedoch, von bestimmten Paradebeispielen abgesehen, eine ausschweifende Willkür in den angenommenen phonetischen, derivatorischen und semantischen Entwicklungen.

Ein anderer Weg zur Bestimmung des vorgriechischen Substrats ist die Toponymie. Gewisse Ortsnamenstypen lassen sich nicht mittels griechischen Derivationsprinzipien erklären und sind nicht nur im griechischen Kernland, sondern auch in großen Teilen Kleinasiens weit verbreitet. Leonard Palmer denkt deshalb, dass Griechenland früher von Luwiern, d.h. Indogermanen des anatolischen Zweiges, bevölkert war. Das typische Beispiel ist der Bergname Παρνασσός, das mit luwisch parna „Haus“ zusammengestellt wird. Palmer behauptet außerdem, dass die Linear A-Texte auf Luwisch geschrieben sind.

Wie dem auch sei (wir werden unten darauf zurückkommen), die zweite Indogermanisierung Griechenlands fand wahrscheinlich nicht als ein gewalttätiger und totaler Umtausch der Bevölkerung statt, denn wir hätten gegebenenfalls kaum Spuren eines Substrats gehabt. Auch wenn das Vorgriechische und das Urgriechische eventuell noch gegenseitig verständlich waren, ist es wohl kaum denkbar, dass sich das Vorgriechische ohne direkte Präsenz des fremden Dialekts zu Griechisch entwickelte. Es muss sich jedoch eine, wie auch kleine, Gruppe von Sprechern des Urgriechischen im „pelasgischen“ Land niederlassen haben, die offenbar in der Gesellschaft ein so hohes Ansehen genossen, dass ihre Sprache, mit dem Einschlag gewisser lokaler Wörter, von immer mehr „Pelasgern“ übernommen wurde. Dies scheint auch die Auffassung Herodots gewesen zu sein, der das Verb προσκεχωρηκότων anwendet (1.58), d.h. die barbarischen Sprachen schlossen sich dem Griechischen an und wurden also nicht verdrängt.

 

3 Da die Beziehung zwischen Griechisch und Indoiranisch im Rahmen dieses Aufsatzes von besonderer Bedeutung ist, wird es von Nütze sein, die Vorgeschichte dieser Sprachzweige näher zu verfolgen.

Über die Lokalisierung der Urheimat der Indogermanen herrscht bekanntlich in der Forschung ein großer Dissens. Marija Gimbutas hat in einer Reihe von Arbeiten die Steppen nördlich des Schwarzen und Kaspischen Meeres als wahrscheinlichsten Ausgangspunkt befürwortet. Sie identifiziert die urindogermanische Kultur mit der nach den Bestattungen in Grabhügeln benannten Kurgankultur, die sich in drei sukzessiven Wellen ca. 4500-3000 v. Chr. über große Teile Europas verbreitet haben soll. Sie stellt sich eine Dichotomie zwischen vaterrechtlichen, nomadischen und primitiven Indogermanen auf der einen und mutterrechtlichen, sesshaften und hoch entwickelten Alteuropäern auf der anderen Seite vor. Auch wenn diese ideologische Dimension keine allgemeine Zustimmung gefunden hat, ist das nördliche Schwarzmeergebiet noch heute der populärste Vorschlag.

Colin Renfrew vermutet seinerseits, dass die Urheimat der Indogermanen in Anatolien gelegen war, und dass die Sprache mit der Kenntnis des Ackerbaus verbreitet wurde. Obwohl dieses Szenario archäologisch betrachtet plausibel ist, stimmt es mit der linguistischen Evidenz nur schlecht überein. Der Abstand zwischen Griechisch und Anatolisch und die Ähnlichkeit zwischen Griechisch und Indoiranisch sind einfach zu groß. Robert Drews and Margalit Finkelberg haben, offenbar unabhängig, einen schönen Kompromiss gefunden: Die Indogermanisierung sei tatsächlich von den ersten Ackerbauern getragen worden, aber die Indogermanen, die zu Griechen wurden, rühren von einer späteren Einwanderung aus dem Norden her. Die erste indogermanische Sprache, die im griechischen Raum gesprochen wurde, stand demgemäß den anatolischen Sprachen und vor allem Luwisch, nah, obwohl es ein Anachronismus ist, sie mit Palmer einfach „Luwisch“ zu nennen. Wenn die „pelasgischen“ Substratwörter mit *k̂ > σ tatsächlich von diesem Idiom stammen, hatte das Vorgriechische auf jeden Fall diese Isoglosse mit Luwisch gemein (vgl. *h1ék̂uos „Pferd“ > luw. azu(wa) , lyk. esbe). Zugestandenermaßen lassen sich aber so gut wie keine der vorgriechischen Substratwörter von anatolischen Vorbildern herleiten.

Colin Renfrew behauptet immer noch, dass die griechische Sprache sich lokal aus der Sprache der ersten neolithischen Siedler entwickelte; die ungriechischen Wörter sind also keinem Substrat zu verdanken, sondern rühren vielmehr vom anatolischähnlichen Minoisch her. Auch wenn diese Theorie vielleicht aus kladistischer Sicht ökonomischer ist, entspricht sie jedoch nicht der sprachwissenschaftlichen Erfahrung. Der nahe Kontakt hätte zweifelsohne zu einer Nivellierung der frühen Sprachgrenzen geführt; die ausgebliebene Nivellierung der Sprachgrenzen bezeugt mit anderen Worten eine lange Periode ohne direkten Kontakt. Das Griechisch-Phrygische auf der einen Seite und das Luwisch-Hethitische auf der anderen bilden kein einzelnes Kontinuum. Die zahllosen die zwei Kontinua trennenden Isoglossen sind eine deutliche Evidenz für Verlagerungen innerhalb der Sprachgeographie – d. h. „Völkerwanderungen“.

John Robb hat einen zum Nachdenken anregenden Beitrag zur europäischen Paläolinguistik geliefert. Aufgrund moderner Parallelen präsentiert er folgendes Szenario: Während das Paläolithikum und das Mesolithikum, als die kleinen verstreuten Populationen voneinander ökonomisch abhängig waren, von einheitlichen Sprachkontinua geprägt waren, bedeutete die landwirtschaftliche Revolution des Neolithikums mit der Etablierung von selbstgenügsamen Kleingesellschaften das Aufblühen zahlloser Lokalsprachen. Im späten Neolithikum und in der Bronzezeit stiegen aber zugleich der Handelsverkehr und die soziale Stratifikation, was zur Etablierung überregionaler sowie sozial- und geschlechtsspezifischer Sprachnormen führte. Die Entstehung einer internationalen Elite mit einem gemeinsamen Weltbild und einer gemeinsamen materiellen Kultur war der entscheidende Faktor für die Indogermanisierung Europas.

Der wahrscheinlichste Ausgangspunkt dieser Indogermanisierung bleibt die nordpontische Steppe (zunächst die Srednij Stog- und Jamnaja-Kultur). Auch wenn man die erste Wiege in Kleinasien hinlegen will, muss man mit einer zweiten, nördlichen Heimat rechnen, um die weitgehende Parallelität des Griechischen und des Indoiranischen zu erklären. Die mit der Landwirtschaft ausgebreitete Sprache, die eventuell zu einer früheren, archaischen Phase des Urindogermanischen gehörte, zerfiel wahrscheinlich bald in eine Vielzahl von Dialekten. Unterschiedliche Interferenz mit verschiedenen vorindogermanischen Sprachen (Verdrängung des Substrats oder Kreolisierung des Superstrats je nach der Situation) und die Bildung regionaler Identitäten führten zu einem zunehmenden Abstand zwischen den Dialekten. In einem Teil, wahrscheinlich nördlich des Schwarzen Meeres, bildete sich somit das „klassische“, avancierte Indogermanisch heraus, mit den drei Genera, dem Aorist und dem Augment.

 

4 Der indoiranische Zweig ist aller Wahrscheinlichkeit nach auf den eurasischen Steppen entstanden. Angesichts der Geographie, Chronologie und Gesellschaftsstruktur wurde die Andronowo-Kultur, die im 2. Jahrtausend v. Chr. zwischen dem Kaspischen Meer und den Altai-Gebirgen verbreitet war, wahrscheinlich von Indoiraniern getragen. Zur selben Zeit beherbergten die Steppen nördlich des Schwarzen Meeres die so genannte Srubnaja-Kultur, die in enger Beziehung zur Andronowo-Kultur stand. Sie könnte vorskythischen „Kimmeriern“ zugeschrieben werden, indem die iranischsprachigen Skythen hingegen erst um 1000 v. Chr. aus Zentralasien einwanderten. Dies ist, wie wir gesehen haben, im Großen und Ganzen Herodots Version. Die Kimmerier waren aber wie gesagt selbst eine Art Skythen. Die skythisch-sakische Kultur ist deswegen vielmehr eine Fortsetzung beider Kulturen. Im 4. und 3. Jahrtausend, in der Jamnaja-Kultur, gab es mutmaßlich nördlich des Schwarzen und Kaspischen Meeres Dutzende von verstreuten, näher oder ferner verwandten indogermanischen Dialektinseln, die sich zunächst durch Ackerbau und Haustierhalt ernährten. Wegen der schwierigen Kommunikation waren ihre Dialekte sicher im Laufe der Jahrhunderte immer unähnlicher geworden. Die Erfindung des Streitwagens bedeutete in dieser Hinsicht einen Wendepunkt. Die Elite kommunizierte jetzt problemlos über Hunderte von Kilometern, und es bildete sich eine gemeinsame Identität heraus, die zugleich eine sprachliche Konvergenz förderte: Die indoiranischen Dialekteigentümlichkeiten (z. B. satəm-Konsonantismus; a/e/o-Nivellierung) verallgemeinerten sich unter den Indogermanen Osteuropas und Zentralasiens. Das Indische verließ diesen Dialektbund, bevor sich die zweite, spezifisch iranische Phase einsetzte (z. B. *s > *h; *bh, *dh, *gh > *b, *d, *g). Die letzte Phase ist die der nordostiranischen Hirtennomaden, die den Streitwagen gegen die weitaus mobilere Reiterei auswechselten. Herodots skythische Invasion ist folglich keine Völkerwanderung, sondern höchstens ein Elitewechsel innerhalb eines kulturellen Kontinuums.

Wenn die Griechen nicht autochthon aus den ersten neolithischen Siedlern entstanden sind, sondern tatsächlich aus einer nördlichen Urheimat unfern des ursprünglichen Sitzes der Indoiranier eingewandert sind, muss man sich fragen, zu welcher Zeit und unter welchen Umständen die Hellenisierung Südbalkans erfolgt sein soll. Die Einwanderung wird traditionell auf ca. 2100 v. Chr. datiert, aber die archäologische Grundlage dieser Datierung ist nicht mehr stichhaltig. John Coleman argumentiert für eine Einwanderung der Griechen um 3200 v. Chr., weil es in den meisten griechischen Siedlungen eine archäologische Lücke von mehreren Jahrhunderten zwischen dem Spätneolithikum und der Bronzezeit gibt. Ein Zusammenbruch der südbalkanischen neolithischen Landwirtschaft führte mit anderen Worten dazu, dass nördliche hirtennomadische Urgriechen einsickerten – eine frühe Parallele zur Einwanderung der Dorer in die Peloponnes nach dem Zusammenbruch der mykenischen Palastökonomie. In der Bronzezeit weist der Balkan eine einheitliche Kultur auf (mit den typischen „Kurgan-Elementen“). Es scheint zugleich einen bronzezeitlichen Sprachbund im Balkanindogermanischen gegeben zu haben (gemeinsame Isoglossen sind *-iH > *-i̯V; *kwe > *če (aber *ke = *ke); Suffix * eii̯o ; Lok. Plur. *-si). Der Kontakt mit dem nördlichen Schwarzmeergebiet blieb außerdem intakt, und man kann somit von einem „zirkumpontischen“ Kulturraum sprechen. Die speziellen Übereinstimmungen zwischen dem Griechischen, dem Armenischen und dem Indoiranischen stammen möglicherweise aus dieser Periode. Wir haben also um 2000 v. Chr. zwei sprachlich und kulturell interferierende Sprachbünde, auf der einen Seite den indoiranischen und auf den anderen Seite den balkanindogermanischen Sprachbund.

Der wichtigste Impetus zur indoiranischen Expansion war ohne Zweifel der Streitwagen, der wahrscheinlich im Uralgebiet am Ende des 3. Jahrtausends erfunden wurde und im Laufe von wenigen Jahrhunderten zum Emblem der herrschenden Klassen im Nahen Osten, Ägypten, Kleinasien und Griechenland wurde. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass die mykenischen Schachtgräber mit materiellem Gut versehen sind, das dem, was uns auf den eurasischen Steppen begegnet, ziemlich ähnlich ist. Silvia Penner lenkt die Aufmerksamkeit auf eine erstaunliche Korrespondenz in der Ausformung der Wangenscheiben von Trensen, die – zusammen mit überzeugenden Analogien der Ornamentik und der Art der Lanzenspitze – eine nördliche Herkunft der mykenischen Herrscher indiziert. János Makkay will ebenfalls eine genaue Parallele zum berühmten mykenischen Wildschweinehelm in Gräbern der älteren Jamnaja-Kultur belegen. Er schließt, dass die mykenische Elite iranischsprachig war, weil die Jamnaja-Kultur seiner Ansicht nach von indoiranischen Völkern getragen wurde. Der indoiranische Sprachzweig entstand aber wahrscheinlich erst als eine Konsequenz des intensiven Kontakts nach der Erfindung des Streitwagens. Es gibt außerdem keine Anhaltspunkte für die Anwesenheit eines Iranisch sprechenden Elements in der mykenischen Gesellschaft; die Personennamen der herrschenden Schicht und die Streitwagenterminologie sind nicht iranisch, sondern griechisch.

Eine andere Möglichkeit ist, dass die Streitwagenkrieger, die nach Griechenland zogen, einen anderen, noch nicht indoiranisierten Dialekt sprachen und zwar eine Vorform des Griechischen. Die Frage ist jedoch, ob man bereit ist, das Ankommen der Griechen erst auf ca. 1600 v. Chr. zu datieren. Es ist wohl des Guten zu viel, sich vorzustellen, dass eine bescheidene Schicht von Streitwagenkämpfern im Stande war, in kürzester Zeit ihre Sprache durchzusetzen. Es handelte sich vielmehr um eine ganze Reihe von undramatischen einsickernden Einwanderungswellen aus dem nördlichen in den südlichen Balkan. Die Etablierung der mykenischen Palastzentren führte zu einer Konvergenz des sprachlichen Flickenteppichs in Richtung des Dialekts der angesehenen Elite. Ihre „Kriegerideologie“ war tonangebend, aber in den urbanen Zentren verschmolzen Altes und Neues.

 

5 Richten wir noch einmal den Blick auf den Anlass des vorliegenden Aufsatzes, Herodots Darstellung der Einwanderung der Skythen und der Griechen. Eine nähere Analyse der betreffenden Stellen wird ergeben, dass die Geschichten von den Auseinandersetzungen mit den autochthonen Urvölkern, den Kimmeriern und den Pelasgern, in manchen Einzelheiten übereinstimmen.

Herodot erzählt in 6.137-139, teilweise auf dem Vorgänger Hekataios beruhend, dass die Pelasger eine Mauer auf der Akropolis (Πελαργικόν) errichtet hatten und deswegen die Erlaubnis bekamen, am Fuß des Hymettos zu siedeln. Die Pelasger vergriffen sich auf die athenischen Mädchen und Jungen, die Wasser am Brunnen holten, und als ob dies nicht genug wäre, planten sie, die Macht zu ergreifen, aber ihre Pläne wurden entlarvt. Obwohl die Athener das Recht hätten, sie umzubringen, wurden sie geschont und aus Attika nach Lemnos vertrieben. Am Anfang des Skythenlogos hören wir folgende Geschichte (4.1-4): Als die skythischen Männer die Kimmerier in Asien verfolgten und dort achtundzwanzig Jahre lang Krieg trieben, verkehrten die Frauen mit den Sklaven und gebaren eine Generation junger Männer. Da die skythischen Männer endlich heimkehrten, gruben die unehelichen Jugendlichen einen Wallgraben quer durch die Krim und wollten Widerstand leisten. Aus Angst gaben sie aber ihr Vorhaben auf und flohen. Mehrere Züge verbinden diese Geschichte mit der von den Pelasgern: 1) Die Vergewaltigung; 2) Der Status des Gewalttäters; 3) Die Bautätigkeit; 4) Der Aufruhrsversuch; 5) Die Flucht.

Die Sklaven der Skythen sind Kriegsgefangene (4.2.2 τὸν ἂν λάβωσι Σκύθαι, ἐκτυφλοῦσι). Herodot hat wohl zunächst an die Kimmerier gedacht. Seiner Rekonstruktion der skythischen Geschichte zufolge geht der Eroberungskrieg gegen die Kimmerier unmittelbar dem Verkehr der Skythinnen mit den Sklaven voraus (4.1.2-3). Die Kriegsgefangenen sind mit anderen Worten während der Eroberung Skythiens gefangen genommen. Herodot teilt zwar mit, dass das kimmerische Volk das Land vor der Ankunft der Skythen geräumt hatte (4.11.4). Einige Exemplare der kimmerischen Urbevölkerung mögen aber schon in ihre Hände gefallen sein.

Die Pelasger sind keine Sklaven. Es wird in der Pelasgergeschichte ausdrücklich gesagt, dass die Bürgerkinder selbst Wasser am Brunnen holen mussten, weil „es damals unter den Griechen noch keine Haussklaven gab“. Da man im Falle der nomadischen Skythen von vornherein nicht glauben würde, dass sie Sklaven halten würden, weil das Sklaventum zunächst für den sesshaften Ackerbau berechnet ist, fügt Herodot sofort eine Erklärung darauf hinzu, wozu es diese Sklaven gibt, und zwar wegen der Stutenmilch. In beiden Geschichten spielt also das fehlende Sklaventum eine zentrale Rolle.

Ganz wie die Pelasger die Mädchen vergewaltigen, nachdem sie eine Mauer für ihre Väter gebaut haben, so bauen die illegitimen Söhne der Sklaven und Skythinnen einen Schutzwall gegen die skythischen Krieger, als sie aus dem Felde zurückkehren (in der Landschaft wollten man auch kimmerische Mauern sehen: 4.12.1). In beiden Geschichten werden die Verbrecher nichtsdestoweniger geschont und fliehen. Die Elemente sind alle dieselben, obwohl die Frage der Schuld unterschiedlich beantwortet werden muss.

Es ist eine ähnliche Sage aus der spartanischen Frühgeschichte überliefert worden (Ephoros, FGrHist 70 F 216): Da die Spartaner während des Kriegs gegen die Messenier geschworen hatten, dass sie nicht rückkehren wollten, bevor sie entweder alle tot waren oder Messene zerstört hatten, schickten die Frauen nach einiger Zeit eine Delegation zu ihren Männern und baten sie, auf ihre Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Die Männer schickten dann die jüngsten der Soldaten, die wegen ihres jungen Alters an dem Eid nicht teilgenommen hatten, zurück nach Sparta, wo sie eine neue Generation zeugten, die sogenannten Parthenier („Jungfrausöhne“). Da die Väter ihnen nicht dieselben Rechte einräumten wie die legitimen Söhne, verschworen sie sich mit den Heloten. Die Pläne wurden aber entlarvt, und die Parthenier emigrierten nach Süditalien, wo sie die Kolonie Taras gründeten. Die Sage hat mehrere Züge mit der skythischen Geschichte gemein: 1) Die Väter sind in den Krieg gezogen; 2) Die Frauen gebären illegitime Kinder; 3) Die Kinder rebellieren; 4) Die Kinder werden ausgewiesen.

Die Parthenier werden in Ephoros’ Version nicht als Sklavenkinder beschrieben. Sie verbünden sich jedoch mit den unfreien Heloten, die angeblich Nachkommen der vordorischen Bevölkerung waren (Diodor, Bibl. 8.21.1, spricht von ἐπευνακταί, d. h. „Heloten, die den Platz gefallener Bürger auf dem Schlachtfeld übernommen haben“). Ihre Väter sind außerdem Kinder, die die spartanischen Soldaten in Messenien mit lokalen Frauen gezeugt haben. Antiochos sagt, dass die spartanischen Männer, die nicht am Krieg teilnahmen, schlechthin als Heloten betrachtet wurden (FGrHist 555 F 13). Polybios berichtet, dass die Lokrier im Messenischen Krieg als Verbündete der Spartaner dienten (Hist. 12.5-11 = Aristoteles fr. 546 Rose). Auch sie konnten nicht nach Hause zu ihren Frauen, die folglich mit den Sklaven verkehrten. Nach einem misslungenen Aufstand gründeten die illegitimen Kinder die Kolonie Lokroi Epizephyrioi in Unteritalien. Die lokrischen Sklaven waren wahrscheinlich ebenfalls eine Art Heloten, d. h. Leibeigene, die den Acker der freien Bürger bauten. Die Heloten werden traditionell für bezwungene Reste der vordorischen Bevölkerung gehalten. Die blinden Sklaven der skythischen Geschichte sind ebenfalls Nichtskythen. Sie bauen keine Äcker für die nicht-agraren Skythen, sondern bereiten stattdessen die berühmte Stutenmilch zu. Die ausgewanderten Bastarde galten vielleicht als die mythischen Vorfahren der Ackerbauskythen und Pflugskythen, die die königlichen Skythen als ihre Sklaven betrachteten (Hdt. 4.20.1).

In Herodot hat das pelasgische Abenteuer ein Nachspiel nach der Ausweisung. Die Pelasger wollten Rache an den Athenern und landeten mit einer Flotte in der Nähe von Brauron, weil sie wegen der alten Ortskenntnis wussten, dass die jungen unverheirateten Athenerinnen eben dort und dann ein Fest für Artemis feierten. Sie entführten also viele der Mädchen nach Lemnos. Aus dieser Ehe entsprang eine Generation von Kindern, denen die Mütter die attische Sprache und die attischen Sitten beibrachten. Da sie sich darum gegenüber den anderen, rein pelasgischen Kindern behaupteten, fürchteten die Väter, dass die Kinder eines Tages die Macht ergreifen würden, wenn es auf diese Weise weiterginge, und beschlossen deswegen, den halbgriechischen Nachwuchs samt seinen Müttern umzubringen.

Auch diese zweite Hälfte der Pelasgergeschichte findet eine Parallele im skythischen Buch, freilich nicht diejenige Episode, die wir oben betrachteten, sondern die Skylesnovelle (4.78-80). Skyles war der Sohn eines Skythenkönigs und einer Griechin und wurde von der Mutter geheim in griechischer Kultur und Sprache erzogen. Ganz wie die griechischsprachigen Kinder der Pelasger die anderen Kinder dominierten, so wurde auch Skyles König der Skythen. Der griechischsüchtige Skyles lebte mehrere Monate im Jahr ein verborgenes Leben als Grieche in der Kolonie Olbia, wo er sich sogar einen Palast und eine griechische Frau gönnte. Als er sich in die dionysischen Mysterien einweihen ließ, sahen es einige Skythen aus einem Turm, und er wurde nach einem misslungenen Fluchtversuch schließlich von seinem Halbbruder getötet.

Eine andere Variante desselben Motivs steht in Herodots viertem Buch (4.145-149): Die Minyer, die von den Pelasgern aus Lemnos vertrieben wurden, wurden in Sparta aufgenommen und heirateten spartanische Frauen. Nach einiger Zeit wollten sie aber die Macht ergreifen, und die Spartaner wollten sie deswegen umbringen. Sie wurden von ihren spartanischen Frauen gerettet und gründeten eine Kolonie auf Thera.

 

6 Dass die skythischen Geschichten nicht nur griechische Sagen sind, die Herodot sekundär auf die Skythen übertragen hat, sondern, jedenfalls teilweise, eine genuine Tradition wiederspiegeln, wird dadurch bestätigt, dass Teile der Geschichte auch im ossetischen Nartenepos auftreten. In einer Episode sind die vornehmen Narten auf Besuch im Himmel; sie sehen vom Himmel, wie die einfachen Narten sorglos und wild auf dem Dachboden eines Hauses tanzen, obwohl das Land unter feindlichem Angriff der Agur steht. In einer anderen Sage ist der Held Batradz weg im Himmel; Bædzænæg, der Sohn eines blinden Riesen, dringt in die Welt der Narten ein und nimmt an ihren Spielen und Tänzen teil; Batradz sieht es vom Himmel, kehrt zurück und verdrängt ihn wieder. Die beiden Sagen haben vier gemeinsame Züge: 1) Die Abwesenheit der Autorität; 2) Den Tanz; 3) Das Eindringen; 4) Die Entdeckung aus dem Himmel. Diese Grundstruktur liegt ebenfalls in der Skylesnovelle vor.

Das Motiv des blinden Sohns weist dagegen auf den Mythos der Sklavensöhne hin, deren Väter wiederholt als blind beschrieben werden (Hdt. 4.2, 4.21.1). Wir haben möglicherweise eine ältere Version der ossetischen Sage im türkischen Märchen vom Sohns des Blinden, türkisch köroğlu: Köroğlus Vater war ein Vasall, der vom Pascha erblindet worden war; der Sohn versucht einen Aufruhr, aber ohne Erfolg. Eine ähnliche Geschichte wird ebenfalls vom armenischen König Aršak, dem Sohn des vom persischen Satrapen erblindeten Tiran, erzählt. In der ossetischen Tradition gehört Bædzænægs Vater zum Volk der Wajugen, die blinde oder einäugige, oft mehrköpfige Riesen sind. Ihre ossetische Bezeichnung wæjyg hängt wahrscheinlich mit avest. vayu , aind. vāyu „Luft, Wind“ zusammen. In der indischen Tradition tritt Vāyu mitunter als Gegensatz zu Indra auf, während der personifizierte Vayu in der Avesta ein Dämon und ein Todesgott ist – der Wajug ist auch Wacht des Totenreiches.

Tuomo Pekkanen vermutet, dass die Blindheit der Sklaven auf einer Fehlübersetzung des Stammesnamens Ἄνται beruht: aind. andhá , jav. anda heißt sowohl „blind“ als „dunkel“. Seiner Analyse zufolge seien die Sklavensöhne, bei den späteren Autoren auch Δουλοσπόροι und degeneres genannt, unterworfene Nichtskythen, genauer gesagt Slawen. Das Prädikat „Sklave“ wurde aber sicher an alle möglichen ackerbauenden Ethnizitäten in der skythischen Interessesphäre verliehen. Und „blind“ könnten sie wohl auch heißen, weil die Erblindung ein potentielles, wenn nicht in allen Fällen verwirklichtes, Zeichen des Sklaventums war. Die mythischen Vorfahren der Leibeigenen, die unechten Söhne, hatten natürlich Väter, die alle blind waren und als doofe, aber starke Arbeiter galten. Der Mythos von den Sklavenkindern beschreibt also einen Entscheidungskampf darüber, welche Bevölkerungsschicht regieren durfte, die Krieger oder die Bauern. Der gleiche Konflikt liegt vor, wenn Skyles das städtische über das nomadische Leben stellt und sich sogar in ein Agrarmysterium einweihen lässt. Das Ereignis bezeichnet zugleich eine Individualisierung und Historisierung des ursprünglichen Mythos (wie im Falle der türkischen und armenischen Varianten).

Das indische Epos Mahābhārata behandelt den dynastischen Kampf zwischen den Kaurava, den hundert Söhnen des blinden Königs Dhṛtarāṣṭra, und den Pāṇḍava, ihren Cousins und den rechtmäßigen Erben des Königtums. Die bei Saxo Grammaticus (8. Buch) geschilderte Brávallaschlacht wird ähnlicherweise zwischen dem blinden König Haraldus und seinem Neffen, dem Schwedenkönig Ringo ausgekämpft. In der Mahābhārata sind die Pāṇḍava formal Söhne des Pāṇḍu; in Wirklichkeit entspringen sie aber verschiedenen Göttern, Dharma, Vāyu, Indra und den Aśvin. Dumézil sieht darin eine Verkörperung der dreiteiligen Struktur (Priester, Krieger, Bauer), indem Vāyu und Indra die zweite Funktion teilen. Auch wenn dies zutrifft, hatte der illegitime Sohn Vāyus, der unheimliche Bhīma, in einer älteren Fassung mutmaßlich zur anderen Partei gehört. In unserem Zusammenhang ist der verbreitete Mythos von den starken, „zweitfunktionalen“ Einwanderern, die die reichen, „drittfunktionalen“ Ureinwohner vertreiben, von besonderem Interesse. In der ossetische Sage vom Streit zwischen den Æxsærtægkatæ und den Boratæ ist keine der Familien älter als die andere. In der nordischen Mythologie wird das Fruchtbarkeitsgöttergeschlecht der Vanir aber vom Kriegsgöttergeschlecht der Æsir verdrängt, und Rom wurde, laut Livius, von Freibeutern gegründet, die die Jungfrauen der umwohnenden Sabiner raubten.

Die ähnlichste Parallele zu unseren Gründungsgeschichten findet sich im irischen Epos Cath Maige Tuired. Brés war der Sohn des Königs der Fomoire, Elatha, und einer Frau aus der Túatha Dé Danann, Ériu. Er wuchs bei den Túatha Dé Danann auf und wurde König, wurde aber wegen Missernte schließlich abgesetzt. Er floh mit seiner Mutter zu den Fomoire, die gegen die Túatha Dé Danann zogen. Nach der Niederlage wurde Brés geschont und galt unter den Iren als Einstifter des Ackerbaus. Die Einäugigkeit ist in diesem Mythos vom Riesen Balor repräsentiert, dessen tödliches Auge die Fomoire als eine Massenvernichtungswaffe anwendeten (§133).

 

7 Die Ähnlichkeiten zwischen den skythischen, den griechischen und den irischen Landnahmesagen lassen vermuten, dass die Völker eine zugrunde liegende Ideologie gemein haben. Die Rekonstruktion einer indogermanischen Ideologie, die zunächst mit dem Namen Georges Dumézils assoziiert wird, hat eine schlechte Presse, weil sie nach der Ansicht der Kritiker überholte rassistische Vorstellungen tangiert. Eine Präzision meines Gebrauchs des Begriffs Ideologie scheint deswegen unentbehrlich zu sein: Die Ideologie hat nichts mit einem genetisch oder wie auch immer angeerbten Volksgeist zu tun, sondern ist eine historische Konstruktion. Wenn man eine beliebige Sprache entweder von seinen Eltern oder später im Leben von jemandem anderen lernt, übernimmt man nicht nur ihre ganze phonologische, morphologische, syntaktische und phraseologische Struktur, sondern auch eine Syntax der Erzählung und der Begriffsbildung, eine Ideologie. Wenn Dumézils dreiteilige Struktur tatsächlich in einer beträchtlichen Menge von indogermanischen Mythen und Gesellschaftsorganisationen wiederkehrt, lässt es sich von einer in der Sprache – nicht etwa in der Seele des Volkes – innewohnenden „Ideologie“ herleiten. Es heißt aber nicht, dass jeder indogermanische Dialekt zwangsläufig zu jeder Zeit und im selben Maß diese Ideologie beibehalten hat oder beibehalten wird, oder dass sie in der Vorstellungswelt eines Nichtindogermanen undenkbar wäre (wie etwa die drei Genera, die zwar für Indogermanisch typisch sind, aber immerhin in vielen der Sprachen aufgegeben worden sind, und gelegentlich auch außerhalb des Indogermanischen vorkommen).

Die Ideologie, die den beschriebenen Landnahmesagen zugrunde liegt, ist ein historisches Produkt, das in einem bestimmten Gesellschaftstyp entstanden ist. Es ist die These der vorliegenden Arbeit, dass die ideologischen und linguistischen Tatsachen in einer engen Beziehung zueinander stehen. Die Verbreitung der (spät ) indogermanischen Sprachen beruht zweifelsohne auf irgendeiner sozialen Umwälzung, auch wenn man keine massive, alle früheren Kulturen verdrängende Völkerwanderung in Kauf nehmen will. Auch die friedliche Übernahme einer Sprache ist wohl kaum denkbar, wenn die Träger der neuen Sprache nicht irgendwie die Oberhand haben.

Die Eroberungsmythen könnten als eine Erinnerung der Verdrängung der nichtindogermanischen Bauern durch die indogermanischen Viehhirten betrachtet werden, was in Gimbutas’ ideologisches Modell hineinpassen würde. Diese selbsternannten Edelmänner begriffen sich als männlich und betrachteten die sesshaften Bauern als weiblich. Herodot berichtet von den Lykiern, dass sie ihre Abstammung von den Müttern und nicht von den Vätern rechneten, und dass die Kinder von Bürgerinnen und Sklaven für legitim gehalten werden, nicht aber die von Bürgern und Nichtbürgerinnen (1.173.4). Es könnte eine fortfahrende Existenz des „Urmatriarchats“ unter den Anatoliern bezeugen. Ein matrilineares System ist auch für Athen bezeugt (Pollux, Onom. 3.21), was man ja dem pelasgischen Substrat zuschreiben könnte. Der Mythos von den Sklavenkindern würde demgemäß einen Zusammenstoß von zwei Kulturen bezeichnen: dem matriarchalischen „Alteuropa“ und den patriarchalischen Eroberern.

In der pelasgischen Version des Mythos (Hdt. 6.137.3), wird die Wendung ὑπὸ ὕβριός τε καὶ ὀλιγωρίης „durch Gewalttätigkeit und Arroganz“ gebraucht, die in einer Passage wiederkehrt, in der Herodot von der gnadenlosen Steuererhebung der Skythen während der 28 Jahre langen Nahostkampagne redet (1.106.1). In der attischen Sage nehmen die Pelasger mit anderen Worten dieselbe Position ein, die sonst von den Nomaden besetzt wird. Da die Athener sich für autochthon halten, werden die letzten Vertreter der ursprünglichen Ethnizität als ein Fremdelement betrachtet; die Pelasger sind sozusagen autochthone Einwanderer. Während die Spartaner und die Skythen die Trennung zwischen Ackerbauern und Kriegern ideologisch in einer Art Apartheid aufrechterhielten und das städtische Leben verachteten, war die attische Ethnogenese offenbar anders: Die indogermanisierende Elite verschmolz mit der Urbevölkerung, und alle Bürger solidarisierten sich mit der sesshaften Landwirtschaft. Die nicht-assimilierten Pelasger sind trotzdem Außenseiter, und die nomadische Aggression wird auf sie übertragen.

Die Rolle des weiblichen Teils wird jedoch nicht nur von den unterworfenen Vor- bzw. Altindogermanen gespielt. Sowohl die mit den Skythen nah verwandten Sarmaten als auch die Spartaner werden in den griechischen Quellen als γυναικοκρατούμενοι beschrieben. Aristoteles behauptet sogar, dass kriegerische Völker häufig von Frauen dominiert werden (Pol. 1269b). Als Ausnahme erwähnt er die Kelten und andere Völker, die offene mannmännliche Liebe (τὴν πρὸς τοὺς ἄρρενας συνουσίαν) praktisieren. Diese für uns überraschende Relativierung ist in unserem Zusammenhang nicht ohne Bedeutung, denn der gleichgeschlechtliche Verkehr war nicht nur bei den Kelten, sondern auch bei den Dorern ein integrierter Bestandteil der Jugenderziehung.

Der Mythos von den illegitimen und aufrührerischen Söhnen des Blinden ist vielmehr eine Rückprojektion des so genannten Männerbundes in die Urzeit. In mehreren indogermanischen Gesellschaften ist eine besondere Erziehungsinstitution bezeugt, nach der die Jungen in einer längeren Periode von der Gesellschaft getrennt lebten. Sie galten als besitzlos, lebten vom Diebstahl und verweilten in der Gemarkung. Derartige Isolationsriten sind Gemeinplätze der Ethnographie. Unter den Indogermanen ist wohl die spartanische κρυπτεία am besten bekannt, aber auch die alten Germanen und Kelten hatten derartige Jugendgruppen (altirisch fían), die in den Quellen oft mit Hunden oder Wölfen verglichen oder identifiziert werden.

Das kimmerische Heer in Kleinasien soll nach dem späten Autor Polyainos (Strat. 7.2.1) von „tapferen Hunden“ niedergekämpft worden sein. Der russische Gelehrte Askold Ivantchik meint, dass diese Hunde in Wirklichkeit eine Bande von skythischen Jungen waren. Die Geschichte soll, eventuell durch die Vermittlung des Griechisch schreibenden lydischen Historikers Xanthos (5. Jh. v. Chr.), auf ein skythisches Epos zurückgehen. Die Existenz skythischer übergangsritueller Jugendbünde wird unter allen Umständen, wie Ivantchik hervorhebt, nicht nur von einer ähnlichen Institution der jetzigen Osseten (balc), sondern auch von nahöstlichen Quellen unterstützt: Eine assyrische Urkunde aus der Regierungszeit Assarhaddons erwähnt einen skythischen König namens Išpakaya, d.h. „Hund“, und die berühmte persische Behistūn-Inschrift zeichnet einen Stamm namens Sakā Haumawarkā, „Somawolfsskythen“, auf.

In den verschiedenen Varianten des Mythos werden die Jungen von einem Einäugigen begleitet. Der germanische Wothan / Óðinn ist ohne Zweifel das am besten bekannte Beispiel. Im skythischen Mythos ist die Blindheit zu einem Standeszeichen der Väter geworden, da die Erblindung der Sklaven im alten Orient weit verbreitet war. Dasselbe Motiv lebt in den späteren kleinasiatischen Sagen fort (Köroğlu und Aršak), was für ihre Ableitung von einem skythischen Vorbild spricht. Im Falle der irischen Fomoire ist die Einäugigkeit des Balor dagegen eine potente Waffe. In Vergils Aeneis wird der Gründer von Praeneste, Caeculus, wörtlich „der Einäugige“, ebenfalls von einer wilden, zum Teil Wolfsfellen tragenden Schar begleitet.

Die griechischen Kyklopen gehören wohl ursprünglich zum selben Mythenkomplex. Die kyklopischen Mauern auf der Peloponnes haben den gleichen Status wie die pelasgischen Mauern in Athen und die kimmerischen Mauern in Skythien. Das nomadische und freibeuterische Leben des Kyklopen entspricht ebenfalls der Lebensweise des jungen Initianden. In diesem Licht mag Paul Thiemes Etymologie *pk̂u-k̂lōp- „Viehdieb“ tatsächlich berechtigt sein. Es ist sicher kein Zufall, dass die skythische Völkerwanderung nach Herodot (oder seinem Gewährsmann Aristeas) von den angeblich einäugigen Arimaspen ausgelöst wurde. Die Kimmerier selbst sind in der Odyssee halbmythische, in ewiger Finsternis lebenden Wesen (Od. 11.14-19), die am Eingang des Hades wohnen.

Eine gespenstige Schar begegnet uns in mehreren indogermanischen Mythologien: z. B. die germanische wilde Jagd (Harii in Tacitus, Germ. 43; altnordisch Einherjar; norwegisch Oskerei) und die kretischen Kureten, deren Name sie als einen Jugendbund bezeichnet. Die Pelasger werden zwar als normale Menschen geschildert; dass sie trotzdem mit älteren Initiationsriten in Verbindung stehen, wird von ihrem Raub der in Brauron tanzenden Mädchen angedeutet. Der arkadische Werwolf Lykaon, der offensichtlich die erwähnten Initiationsriten verkörperte, wurde außerdem als der Sohn des Pelasgos gerechnet. Die Kureten werden übrigens auch als erdgeboren beschrieben (Strabon 10.3.19 γηγενεῖς). Es gibt also eine intime Verbindung zwischen Ahnenkult und Jugendbund. Die Kimmerier und Pelasger sind zugleich die Vorfahren und die ausgeschlossene Jugend, die während der Liminalitätsphase für tot galt und deswegen die Rollen der Ahnen spielen konnte (und in der römischen Tradition sogar ihre Masken trug). Im rituellen Raum wird die Zeit aufgehoben; indem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins werden, kann die Jugend zugleich die Identität der Vorfahren auf sich nehmen.

 

8 Herodots Darstellung der Einwanderung der Skythen in Skythien und der Hellenen in Hellas beruht auf keiner in der Volkstradition überlieferten historischen Erinnerung und spiegelt keine geschichtlichen Realien wieder. Auch wenn die Vorstellung von männlichen kraftstrotzenden Streitwagenfahrern, die ein mutterrechtliches bäuerliches Urvolk versklavten, tatsächlich von antiken Darstellungen gestützt wird, haben wir es nicht mit einer genuinen historischen Tradition, sondern mit einem einer gemeinsamen indogermanischen Ideologie entspringenden Mythos zu tun.

Die Ideologie ist aber selbst ein Produkt eines bestimmten historischen Kontextes. Es etablierte sich um 2000 v. Chr. eine grenzüberschreitende Elite, die den Streitwagen als ihr Emblem wählte und sich gegenüber der sesshaften Bauernbevölkerung arrogant verhielten. Diese Elite war die treibende Kraft in den kulturellen Netzwerken des bronzezeitlichen Europa, die die Herausbildung der wohl bekannten indogermanischen Sprachgruppen förderten. Die „Streitwagenideologie“ muss aber nicht überall durch Wanderung verbreitet worden sein. Die lokalen Machthaber hatten ein natürliches Interesse darin, die international anerkannten Zeichen der Souveränität, darunter die jüngste Version der indogermanischen Sprache, zu übernehmen.

In einer früheren Arbeit habe ich versucht, die Existenz von skythischen Verwandtschaftsgruppen nachzuweisen, die den griechischen Phylen ähnlich waren, und zu denen die Jugend erst nach einem längeren Übergangsritual zugelassen wurde. In den nomadischen Gesellschaften tritt die (fiktive) Verwandtschaftsgruppe an die Stelle des organisierten Staates. Die in diesem Aufsatz behandelten Mythen ergänzen dieses Bild. Die scheinbaren Auseinandersetzungen zwischen Ureinwohnern und Erobern sind in Wirklichkeit eine mythische Projektion des Jugendbundes, den die Jungen während ihrer Initiation bilden. Wenngleich die Mythen unhistorisch sind, weisen sie immerhin auf eine ursprüngliche Stammesgesellschaft zurück. Sowohl die Griechen als auch die Indoiranier rühren also von umwandernden Hirtennomaden her. Dieses Ergebnis ist eine wichtige Relativierung der These, dass die urindogermanische Kultur zunächst von sesshaften Bauern getragen wurde.

Die Dichotomie zwischen der aggressiven nomadischen Streitwagen fahrenden Elite und der unmännlichen sesshaften Bauernbevölkerung scheint ebenfalls urindogermanisch zu sein. Ich will kein Glanzbild zeichnen. Es lässt sich nicht leugnen, dass die urindogermanische Gesellschaft keine Demokratie war, sondern in den Jugendbünden Gesetzlosigkeit, sexuellen Missbrauch und abgeschmackte Gewaltverherrlichung institutionalisierte. Auch wenn die Elite kraft des internationalen Netzwerkes und der Anziehungskraft ihrer „männlichen“ Kultur zweifelsohne eine entscheidende Rolle in der Ausbreitung der indogermanischen Dialekte spielte, bezeichnen die Mythen immerhin zugleich einen Vertrag zwischen den beiden Gruppen. Der Reiteradel konnte auf keinen Fall ihre Existenz alleine aufrechterhalten, ohne sich auf die Wirtschaft der Bauern zu stützen. In Skythien hielt man allerdings an der alten Ideologie bis zum bitteren Ende fest. In Griechenland verschmolz sie aber mit derjenigen der Ackerbauern, welcher Synthese schließlich die europäische Zivilisation und Demokratie entsprangen.